Helping Hands: Zu viele Hände waschen die andere
März 2020. Mittlerweile hat den letzten Zweifelnden gedämmert, dass die Corona-Pandemie nicht von heute auf morgen wieder verschwinden wird. Für viele der damals drohenden Herausforderungen waren noch keine Lösungen in Sicht, doch es war klar, dass es schnell gehen musste. So auch in Bamberg. Im Rahmen des #WirVsVirus Hackathons der Bundesregierung tat sich ein Team von innovativen Köpfen zusammen, um eine Plattform zu entwickeln, die besonders Gefährdeten das Risiko einer Ansteckung beim Einkaufen nehmen sollte. Nach einer rasanten Entwicklungsphase folgte kurz darauf die Ernüchterung, denn Helping Hands wurde nicht so angenommen wie erhofft. Über diese Zeit haben wir mit dem Scrum Master Marcel Binzenhöfer gesprochen, der vor allem für die interne Koordination, Aufbau des Netzwerks und die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Wir wollten wissen, wie das Team auf das letzte Jahr zurückblickt und wie es mit der App weitergeht.
Helping Hands letztes Jahr zügig arbeiten. Innerhalb von gerade einmal vier Monaten entwickelte das Team ein Konzept, programmierte eine geräteübergreifende App und wurde überaus aktiv auf Social Media und anderen Kanälen, um auf die Plattform aufmerksam zu machen. Ein wichtiger Punkt war dabei der „MVP“-Ansatz (Minimum Viable Product), also der Entwurf eines schlanken, auf das Wesentliche fokussierten Produktes, das früh verkauft oder in diesem Fall veröffentlicht werden kann, um zu testen, ob Idee und Produkt Anklang finden.
Nach dem Hackathon mussteDer Gedanke hinter der App: Ältere oder vom Virus besonders gefährdete Menschen, kurz „Homies“, können sich einen digitalen Einkaufszettel erstellen, den dann hilfsbereite, weniger gefährdete Nutzer*innen, sogenannte „Heroes“ sehen und für sie übernehmen können. Das Problem: Kurz nach Inbetriebnahme stellte sich ein erheblicher Helfer*innenüberschuss ein. Es gab deutlich mehr Heroes als Homies und die App erfuhr nur wenig Traffic. Mittlerweile ist einige Zeit vergangen und Helping Hands gibt es noch immer.
Ein Moment der Reflektion
Marcel begrüßt mich an diesem Tag per Video gut gelaunt von seinem sonnigen Balkon. Wir haben uns eigentlich getroffen, um über Scheitern zu sprechen. Im Gespräch geht es aber vor allem um Learnings und einen optimistischen Blick in die Zukunft. Anstatt das Projekt ruhen zu lassen, hat sich das Team dazu entschlossen, weiterzumachen und hat kürzlich mit Johannes, Evgeny und Melissa sogar Nachwuchs bekommen. Mit ihrer neuen Ausrichtung möchten die Beteiligten an die positiven Erfahrungen ihrer Entwicklungsphase anknüpfen und einen gesellschaftlichen Mehrwert stiften. Dieses Mal, so Marcel, wollen sie sich dafür aber die Zeit nehmen, die sie jetzt haben.
start.land.flow: Im Juli 2020 seid ihr live gegangen. Wann war denn der Moment, in dem ihr gemerkt habt, dass es nicht so funktioniert wie geplant?
Marcel: Ich glaube das war irgendwann im August. Wir hatten dann Monate hinter uns, die schon sehr intensiv waren für jeden
Einzelnen, da wir neben der Arbeit in jeder Woche noch 10 Stunden oder mehr zusätzlich gemacht haben. Wir haben das erste Mal – die meisten zumindest – in relativ kurzer Zeit wirklich ein eigenes Produkt entwickelt. Dann war nach 5-6 Wochen schon Enttäuschung da, weil wir gemerkt haben, dass der Nutzen in der Praxis nicht so war, wie wir es uns vorgestellt hatten. Ich glaube, die Phase oder diese Enttäuschung hat sich auch mit der Erschöpfung nach der Zeit gemischt, und dann haben wir es erstmal weiterlaufen lassen.start.land.flow: Und was habt ihr dann gemacht? Was waren dann die nächsten Schritte?
Marcel: Im Dezember haben wir uns dann nochmal ein Wochenende zusammengesetzt und super viele Ideen gesammelt. Da haben wir uns ein bisschen auf das Thema Integration eingeschossen. Wir haben dann versucht, uns genauer mit dem Thema zu befassen und zu schauen, was es schon gibt und haben die letzten Monate sowohl mit der Stadt Bamberg als auch mit Freund statt Fremd und der Gesellschaft für Integration Interviews geführt.
Da kam raus, dass die größte Hürde das soziale Ankommen in der Gesellschaft ist, und das ist die Richtung, die wir eingeschlagen haben. Wo es letztendlich vermutlich hingehen wird, war wie wir Geflüchteten dabei helfen können, gesellschaftlich oder sozial Fuß zu fassen. Es hat sich jetzt aber nochmal erweitert, weil die Interviews gezeigt haben, dass es auch Menschen gibt, die wegen der Arbeit nach Deutschland kommen, die genauso die Schwierigkeit haben. Der dritte Punkt wäre das Thema ERASMUS-Studierende oder solche von außerhalb Europas.
start.land.flow: Was sind eure Ideen für eine Helping Hands App mit diesem Schwerpunkt?
Marcel: Wir haben gesagt, dass wir auf der einen Seite die drei Zielgruppen haben und auf der anderen Seite Einheimische, die Menschen unterstützen wollen, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind. Diese möchten wir mit unserer App vernetzen. Das kann von einem gemeinsamen Kaffeetrinken bis zu Theaterbesuchen, Grillen im Park oder gemeinsamem Training reichen. Da profitieren alle davon. Ich lerne neue Kulturen oder eine neue Sprache kennen, ich kriege neue Perspektiven in mein Leben und verstehe die Situation auch besser.
Zudem war die Idee, dass sich auch bei Vereinen, die Unterstützungen brauchen, jemand anmeldet und sagt, wir suchen immer mal wieder Leute und bieten dafür noch einen Platz an und nehmen dich mit an die Hand, wenn du Lust hast, mitzumachen. Das ist die Grundidee, durch die Plattform zu ermöglichen, dass Menschen in Kontakt kommen und die Integration gefördert wird und wir vielleicht irgendwann dahin kommen, dass es in Bamberg eine kleine Community gibt, in der gesellschaftlich etwas entsteht und ein Mindshift passiert.
start.land.flow: Was war das Wichtigste, was ihr letztes Jahr gelernt habt?
Marcel: Das Learning aus der ersten Phase war, dass wir wirklich dieses Mal mehr Nutzerforschung machen, bevor wir starten. Wir haben keine Zeitnot, müssen nicht unbedingt die Geschwindigkeit hinkriegen wie letztes Jahr und wollen es insgesamt ein bisschen sauberer aufziehen. Was jetzt nicht heißt, dass wir den ersten Ansatz bereuen – überhaupt nicht. Wir haben, als wir im Winter nochmal drüber gesprochen haben, alle gesagt, dass die Zeit super interessant war und jeder in seiner Rolle wahnsinnig viel gelernt hat. Wir haben auch wahnsinnig viel Feedback und Unterstützung bekommen, was mega cool war. Zu merken, dass die Idee prinzipiell ankommt, hat uns getragen. Auch dieses "Einfach mal machen" war eine Erfahrung. Aber wir haben trotzdem gesagt, wenn wir jetzt weitermachen in irgendeiner anderen Richtung, wollen wir das grundlegender und strukturierter aufziehen.
start.land.flow: Was hat euch in der Zeit geholfen? Hattet ihr irgendwelche Strategien oder etwas konkret gemacht?
Marcel: Am meisten hat uns das Feedback und das Interesse aus dem Netzwerk geholfen. Dass immer wieder Anfragen da waren, zum Beispiel bei dem Hackathon zum Thema "Gleich ist gleich", ob wir den Teilnehmenden etwas Input aus der Praxis mitgeben können dazu wie unser Jahr gelaufen ist. Wir sind da auch sehr offen mit umgegangen und haben auch erzählt, was schlecht lief und was schwierig war.
Und als wir nochmal darüber gesprochen haben, was wir eigentlich gelernt haben, gerade durch diesen Hackathon, haben wir einfach gemerkt, wie viel doch hängen geblieben ist und was wir uns trotzdem aufgebaut haben. Ich glaube, es war die Kombi aus dem, was wir gelernt haben, plus Interesse und das Feedback, das wir von außen weiterhin bekommen haben, obwohl wir nicht aktiv an der Plattform weitergearbeitet haben. Außerdem haben wir uns schon ein gutes Netzwerk und eine dazugehörige Marke aufgebaut und es wäre schade, das komplett einschlafen zu lassen.
start.land.flow: Habt ihr Angst, dass es euch mit anderen Projekten ähnlich gehen könnte?
Marcel: Eine Garantie, dass es funktioniert, hast du in keinem Moment. Dadurch dass wir uns das beim zweiten Mal bewusst gemacht haben und, wenn wir weitermachen, strukturierter und mit mehr Zeit starten wollen, ist es aber ein ganz anderes Thema. Klar kann es wieder passieren, dass es in der Praxis nicht funktioniert, obwohl es sich potenzielle Nutzer*innen vorstellen können, aber wenn man so denkt, führt es dazu, dass man gar nichts mehr ausprobiert.
Ob das die bessere Möglichkeit ist, muss jeder für sich entscheiden, aber bei uns überwiegen einfach die Vorteile. Allein der Gedanke, dadurch etwas bewirken zu können – wir bewirken ja nicht nur was dadurch, dass es funktioniert. Ich sehe schon auch unsere Aufgabe darin, Impulse zu geben und dass Menschen Lust haben, sich zu engagieren und Dinge einfach mal auszuprobieren und dadurch ein Mehrwert für die Gesellschaft entsteht.
start.land.flow: Ihr habt eure eigenen Learnings auch auf Social Media gepostet und für andere zusammengefasst. Ein Punkt war "Die eigenen Erfolge feiern". Warum ist das so wichtig?
Marcel: Man hat häufig einen Fokus auf das, was nicht funktioniert oder was schwierig ist. Ich habe daher immer mal wieder versucht, das Team zu ermutigen, dass wir aus einer anderen Perspektive drauf schauen und merken, was wir alles in der Zeit geschafft haben. Das hat auch häufig dazu geführt, die Motivation wieder anzukurbeln. Einfach im Team zu kommunizieren, dass beispielsweise über uns in der Süddeutschen berichtet wird, war für uns sehr wichtig.
Diesen Perspektivwechsel hinzukriegen finde ich wahnsinnig wertvoll, weil man lernt, mit dem Scheitern leichter umzugehen, wenn man auch in diesem Prozess schaut, was trotzdem funktioniert hat. Da kann man einen anderen Umgang mit dem Scheitern lernen und es nicht nur als Negatives sehen, sondern einfach als Möglichkeit, auch etwas draus zu lernen und trotzdem weiterzumachen.
start.land.flow: Vielen Dank für das Gespräch!
Mehr Informationen zum aktuellen Stand bei Helping Hands findet ihr auf ihrem Instagram-Kanal. Alles Mögliche über die App könnt ihr auf der Website nachlesen.